Weinherstellung: Orange Wine
Der rätselhafte Trendwein
Es gibt Weine, die schmeicheln. Und dann gibt es Weine, die provozieren. Orange Wine gehört definitiv zur zweiten Kategorie.
Was passiert, wenn man im Zuge der Weinherstellung einen Weißwein nicht zart und filtriert ausbaut, sondern wie einen Rotwein behandelt – mit wochenlangem Schalenkontakt, wilden Gärungen und einer Portion Mut zum Experiment? Heraus kommt ein Getränk, das die Weinwelt seit Jahren in zwei Lager spaltet: Die einen verehren es als „die ursprünglichste Form des Weißweins“, die anderen rümpfen die Nase und fragen sich, ob hier einfach etwas schiefgelaufen ist.
Dabei ist Orange Wine weder ein Trend- noch ein Zufallsprodukt, sondern beruht auf jahrhundertealter Technik, die gerade ihr Comeback feiert. Doch warum riecht und schmeckt er nach getrockneten Früchten, Nüssen und manchmal sogar nach Pferdestall? Wieso wird er ständig mit Natural Wine verwechselt, obwohl das nicht (zwangsläufig) ist? Und vor allem: Warum lieben ihn einige Sommeliers abgöttisch, während andere ihn als „Modeerscheinung“ abtun?
In diesem Artikel gehen wir den Mythen auf den Grund – von der handwerklichen Herstellung über die Qualitätsdebatte bis hin zur Frage, ob du ihn probieren solltest (Spoiler: Unbedingt, aber mit der richtigen Erwartung).
Bereit für einen Wein, der keine Kompromisse macht? Dann los.
Inhaltsverzeichnis
Orange Wine: Der Rosé unter den Weißweinen
Orange Wine verhält sich zu Weißwein wie Rosé zu Rotwein: Während Rosé durch verkürzte Maischestandzeit aus Rotweintrauben entsteht, gewinnt der bernsteinfarbene Wein seine Besonderheit durch verlängerten Schalenkontakt bei weißen Trauben.
Der entscheidende Unterschied zur klassischen Weißweinherstellung liegt in der Mazeration: Während der Saft bei Weißwein sofort von den Schalen getrennt wird, bleiben diese bei der Herstellung von orangen Weinen zusammen – ähnlich wie bei der Rotweinproduktion.
Diese Methode kombiniert beide Welten:
- Weißweintrauben als Basis
- Rotwein-typische Mazeration
- Ergebnis: Ein Wein mit gold-oranger Farbe, angenehmer Tanninstruktur und einem Spektrum von blumigen bis würzigen Aromen

Schritt-für-Schritt: Wie entsteht Orange Wine?
1. Die Traubenlese – das Ausgangsmaterial
Ein orangefarbener Wein beginnt – wie ein konventioneller Weißwein auch – mit gesunden, vollreifen weißen Trauben. Gern (aber nicht nur) werden aromatische Rebsorten eingesetzt wie Ribolla Gialla, Pinot Gris oder Sauvignon Blanc. Viele Winzer setzen auf Handlese, um die Beeren schonend zu verarbeiten.
2. Pressen (oder auch nicht) – sanfter Umgang
Anders als bei klassischem Weißwein werden die Trauben oft nur leicht gepresst oder sogar als ganze Trauben vergoren (wie bei der Rotweinherstellung). Ziel ist es, so viele Aromen, Tannine und Textur wie möglich aus den Schalen holen.
3. Mazeration – das Herzstück der Herstellung
Jetzt kommt der entscheidende Schritt: Der Most bleibt Tage, Wochen oder sogar Monate mit den Schalen in Kontakt. Im Allgemeinen gilt: Je länger die Maischestandzeit, desto intensiver werden Farbe, Tannine und Aromen des Weins.
- Kurze Mazeration (1–7 Tage): Leichtere Struktur, zarte Farbe
- Lange Mazeration (Wochen bis Monate): Intensive Farbe, kräftige Tannine, komplexe Aromen von getrockneten Früchten bis zu Tee- und Nussnoten
4. Gärung – wild oder gezielt?
Viele Orange Wines gären spontan mit natürlichen Hefen – das macht jeden Wein einzigartig, aber den Gärungsprozess auch unberechenbarer. Andere Winzer setzen gezielt auf ausgewählte Hefestämme, um bestimmte Aromen zu betonen.
5. Der Ausbau
Nach der Gärung beginnt die Reifephase, die den Charakter jedes Weins entscheidend prägt. Wie bei anderen Weinstilen setzen Winzer auch beim Orange Wine auf verschiedenste Gefäße und Dauer, die jeweils unterschiedliche Einflüsse haben:
a) Amphoren (Qvevri) – Die traditionelle Methode
- Ursprung: Georgische Tradition seit über 8.000 Jahren
- Material: Unbehandelte Tonamphoren, traditionell im Boden vergraben
- Einfluss auf den Wein:
- Natürliche Temperaturregulierung
- Mikrooxidation durch poröse Wände
- Betont die Tanninstruktur und Textur
b) Große Holzfässer (z.B. Fuder, Stückfass) – Sanfte Oxidation
- Typische Größe: 500–1.000 Liter (kein Barrique)
- Einfluss auf den Wein:
- Leichte Sauerstoffzufuhr rundet den Wein ab
- Unterstreicht nussige, honigartige Aromen
- Erhält Frische, ohne zu stark zu oxidieren
c) Betontanks – Neutraler Ausbau
- Vorteile:
- Kein oxidativer Einfluss
- Temperaturstabilität
- Erhält die Primärfrucht
d) Stahltanks – Maximale Frische
- Seltener, da oxidative Noten bei maischevergorenen Weinen durchaus erwünscht sind
- Einsatz: Bei kürzerer Mazeration für lebendigere Säure
Wie lange dauert der Ausbau?
- Zwischen wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren
- Natürliche Sedimentation: Viele Winzer verzichten auf Filtration und lassen die Trubstoffe von selbst absetzen
Merke: Neben der Maischestandzeit / Maischegärung hat auch der Ausbau-Stil entscheidenden Einfluss auf das Endprodukt – von knackig-fruchtig bis komplex-oxidativ.
6. Minimalistische Verarbeitung
Die Herstellung von der maischevergorenen Weine folgt oft einer „weniger ist mehr“-Philosophie. Viele Winzer verzichten bewusst auf klassische Schönungs- und Stabilisierungsmethoden:
- Kein oder minimaler Schwefelzusatz: Die lange Mazeration und Reifung machen den Wein von Natur aus stabiler.
- Keine Schönung: Der Wein bleibt oft ungeklärt – deshalb weisen Orange Wines nicht selten eine charakteristische Trübung auf.
- Keine Feinfiltration: Wird oft weggelassen, um Textur und Aromenvielfalt zu erhalten.
Warum dieser Ansatz?
Die traditionelle Herstellung mit langer Maischestandzeit sorgt für höhere Stabilität im Wein – so sind zum Beispiel Rotweine mit ihrem Tanningerüst robuster und oft auch langlebiger als filigrane (Weiß-)Weine. Maischevergorene Weine sind strukturiert und lebendig – und mitunter für Überraschungen gut.

Orange Wine vs. Natural Wine vs. Naturwein: Wer ist wer?
Ein häufiges Missverständnis
Viele Weinfreunde werfen Orange Wine, Natural Wine und Naturwein in einen Topf – das ist nicht korrekt. Im Blogartikel zu Biowein, Naturwein & Co. kannst du nachlesen, warum Biowein nicht dasselbe ist wie Naturwein und warum Orange Wein nicht zwangläufig ein Natural Wine ist.
1. Orange Wine: Eine Vinifikationsmethode
- Definition:
Ein Wein aus weißen Trauben, der wie ein Rotwein mit Schalenkontakt (Mazeration) vinifiziert wird - Kann als Natural Wine gemacht werden – muss aber nicht
- Beispiel:
Ein konventioneller Winzer kann einen gefilterten, geschwefelten Orange Wine produzieren.
2. Natural Wine/Naturwein: Eine Philosophie
- Kein rechtlich abgegrenzter oder geschützter Begriff, aber gemeint ist:
- Minimalintervention im Keller
- Spontangärung mit Wildhefen
- Keine oder kaum Schönung/Filtration
- Meist niedriger, manchmal kein Schwefelzusatz
- Kann Weiß-, Rot- oder Orange Wine sein
Warum die Verwechslung?
- Viele maischevergorene Weißweine werden tatsächlich „natural“ gemacht – aber das ist kein Muss!
- Umgekehrt ist nicht jeder Natural Wine ein Orange Wine (viele sind klassische Weiß- oder Rotweine)
Wie erkennt man den Unterschied?
Praxistipp: Die Bezeichnungen „Skin Contact“, „Amber Wine“, „Macerated White“ oder „maischevergoren“ auf dem Etikett weisen auf die typische Herstellungsmethoden für Orange Wine hin.
Bei Natural Wines signalisieren Angaben wie „unfiltriert“, „ungeklärt“ oder „spontan vergoren“ ebenfalls charakteristische Merkmale. Allerdings beschreiben diese Begriffe nur Teilaspekte. Eine vollständige Auskunft über alle verwendeten Herstellungsverfahren gibt das Etikett in der Regel nicht her. Für genauere Informationen lohnt sich der Blick auf die Winzerwebsite oder ein Gespräch mit dem Fachhändler deines Vertrauens.
Der Geschmack: Warum Orange Wine so extrem polarisiert
Orange Wine ist so etwas wie der Rebell im Weinregal. Er schmeckt ganz anders als herkömmlicher Weißwein. Typische Geschmacksnoten sind getrocknete Früchte, Nüsse, Honig, Kräuter und eine feine Gerbstoffstruktur, ähnlich wie bei Rotwein. Durch die längere Maischestandzeit entstehen intensive, komplexe Aromen, manchmal begleitet von einer leichten Oxidation, die an Sherry erinnern kann.
Ein Orange Wine kann durchaus fordern: Er ist meist kräftiger, erdiger und herber als klassische Weißweine. Während die meisten Weine sich heute über „Frucht und Frische“ definieren, geht er andere Wege.
Aus meiner Erfahrung heraus liebt man ihn oder man kann eher wenig bis nichts mit ihm anfangen. Doch warum scheiden sich an seinem Geschmack die Geister?
1. Das moderne Weinparadigma: Frucht als Qualitätsmaßstab
Einhergehend mit immer besseren technischen Möglichkeiten (Kühlmöglichkeiten, Edelstahltanks, moderne Kellerhygiene) hat sich spätestens seit den 1970er und 1980er Jahren ein klares Qualitätsideal für Wein durchgesetzt:
- Weißwein soll strahlend hell, frisch und primärfruchtig sein
- Rotwein soll saftige Beerenaromen zeigen, mit seidigen Tanninen
- Technische Perfektion (keine Trübung, keine Oxidation) gilt als Qualitätsmerkmal
Orange Wine bricht damit radikal:
- Keine klare Primärfrucht, sondern entwickelte Aromen
- Eher strukturbetont als saftig frisch
- Statt makelloser Klarheit oft bewusste Trübung
2. Geschmacksprofil: Warum Orange Wine so anders schmeckt
Die lange Maischestandzeit und (ggf.) eine oxidative Ausbauweise führen zu:
✔ Trockenfrucht-Noten (Aprikosen, Feigen) statt frischem Obst
✔ Würziger Komplexität (Tee, Nüsse, Gewürze)
✔ Textur vor Säure – Tanningrip statt knackiger Frische
3. Das Qualitätsdilemma: Warum Orange Wine unsere Bewertungsmuster herausfordert
Wir sind darauf trainiert, Frucht, Frische und Präzision mit Qualität zu assoziieren. Maischevergorene Weißweine verlangen ein Umdenken und das Anlegen anderer Qualitätskriterien.
Für viele Weintrinker ist es ein befremdlicher Gedanke: Ein Wein kann bewusst Eigenschaften zeigen, die wir jahrzehntelang als technische Fehler gelernt haben. Aber wieso sollten:
- leichte Oxidation nicht mangelnde Frische, sondern komplexe Reifenoten bedeuten können?
- Tannin im Weißwein nicht Struktur und Länge verleihen dürfen?
- „Funky“-Noten (Brett, Heu) nicht als Fehlton, sondern als gewollte Charakteristik gelten dürfen?
Das Paradox:
Viele dieser „Fehler“ waren vor der Erfindung moderner Kellertechnik (Edelstahl, Kühlung, Mikrofilter) mehr oder weniger normale Weineigenschaften. Orange Wine stellt also weniger die Regeln infrage, sondern erinnert vielmehr daran, dass es mehr als einen Qualitätsmaßstab gibt.
Wie man Orange Wine fair beurteilt
✔ Nutze andere Parameter:
- Komplexität statt Primärfrucht
- Textur statt Frische
- Länge statt sofortiger Zugänglichkeit
- Beurteile immer das Gesamtpaket: Ist der Wein in sich stimmig?
✔ Vergleiche maischevergorene und konventionelle Weißweine stets im Kontext:
Ein junger Sauvignon Blanc mit oxidativen Noten? Fehler.
Ein Orange Wine mit 3 Monaten Schalenkontakt? Stilmittel.
Die größte Herausforderung liegt nicht im Glas – sondern in unseren erlernten Bewertungsmustern. Wer bereit ist, diese kurz abzulegen, entdeckt ganz neue Facetten jenseits des „perfekten“ Weinideals.

Solltest du Orange Wine probieren?
Unbedingt. Denn nur wer über den Glasrand des Bekannten hinausschaut, wird die ganze Geschmacksvielfalt der Weinwelt entdecken.
Für Einsteiger: Nicht jeder Orange Wine ist extrem. Suche nach
- kürzerer Mazeration (3–7 Tage)
- jungen Jahrgängen
- Weine aus Österreich oder Slowenien (häufig zugänglicher Stil)
Für Fortgeschrittene:
- Georgische Qvevri-Weine – hier zeigt Orange Wine seine ursprünglichste, kraftvollste Seite.
Überraschende Food-Pairings
Orange Wine ist ein genialer Speisenbegleiter. Seine Gerbstoffe machen ihn zu einem Sparringpartner auch für kräftigere Gerichte, bei denen klassische Weißweine sang- und klanglos untergehen würden.
Perfect Matches
✅ Asiatische Küche
- Thai-Curry (Kokosmilch mildert Tannine, Gewürze harmonieren)
- Sushi (besonders fettiger Fisch wie Lachs oder Aal)
✅ Würzige & fermentierte Speisen
- Koreanisches Kimchi, Sauerkraut oder eingelegtes Gemüse (die Fermentation passt zum „funky“ Stil)
- Reifer Bergkäse (z.B. Comté, Beaufort)
✅ Pilzgerichte
- Risotto mit Steinpilzen (erdige Aromen im Einklang)
- Gegrillte Shiitake (geballte Umami-Power)
✅ Helles Fleisch
- Schweinebauch (fettiger Cut + strukturierter Wein)
- Luftgetrocknetes Fleisch (Bresaola, Rohschinken, Speck, Salami)
- Geflügel-Leberterrine
Warum diese Kombis funktionieren
- Tannine binden Fett (daher ideal zu öligem Fisch/Curry)
- Oxidative Noten harmonieren mit Röstaromen
- Kein Säureschock (verträgt sich mit Zitronengras, Tamarinde etc.)
Was NICHT passt
❌ Zitruslastige Saucen (wirken metallisch)
❌ Zarte Meeresfrüchte (Tannine überdecken)
❌ Extrem scharfe Gerichte (verstärken Tannine und Alkoholwahrnehmung)
Wenn du Wein magst, der „anders“ ist, der spannende neue Einblicke bietet und der Geschichten erzählt – manche davon faszinierend, manche kühn – dann ist Orange Wine vielleicht dein Ding. Vielleicht in einem Workshop mit mir?
Links
Schwefel: Gar nicht so böse
Weinherstellung Weißwein
Weinherstellung Rotwein
Weinherstellung Roséwein
Biowein, Naturwein & Co.
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